4. Fastensonntag
1. Lesung: 1 Sam 16,1b.6-7.10-13b 2. Lesung: Eph 5,8-14
Evangelium: Joh. 9, 1-41
Mit dem heutigen Evangelium mutet uns die Kirche schon einiges zu, und das nicht nur wegen der Länge des Textes...
Aber keine Angst vor einer zu langen Predigt, ich werde mich bei der heutigen Auslegung auf einen Punkt beschränken, der mir aufgefallen ist, als ich die Lebensbeschreibung von Helen Keller gelesen habe, und ich hoffe, dass ihr etwas davon für die kommende Woche mitnehmen könnt.
Helen Keller wurde Ende des 19. Jahrhunderts in den USA geboren, und verlor schon als Kleinkind im Alter von 19 Monaten aufgrund einer Krankheit ihr Augenlicht und Hörvermögen. Trotz dieser starken Beeinträchtigung lernte sie neben Englisch auch die Fremdsprachen Französisch, Deutsch, Latein und Griechisch, schloss das Radcliffe College mit einem Bachelor of Arts und einer Auszeichnung ab, und erhielt mehrere Ehrendoktorwürden, unter anderem von der Havard-Universität.
Helen Keller setzte sich in unruhigen Zeiten für den Frieden ein, engagierte sich für die Rechte Unterdrückter, war Autorin mehrerer Bücher, und wurde 1933 auf Lebenszeit in die heutige American Academy of Arts and Letters aufgenommen, einer Gesellschaft, die zum Ziel hat, hochwertige Kunst zu fördern.
Das alles wurde möglich, weil sie mit sechs Jahren einer junge Lehrerin namens Anne Sullivan begegnete, die mit einer damals neuen Methode versuchte, der jungen Helen eine Möglichkeit beizubringen, wie sie mit der restlichen Welt kommunizieren kann. Dabei buchstabierte sie mit einem Fingeralphabet Begriffe in Helens Hand, während diese mit der anderen entsprechende Gegenstände berührte. Bald konnte Anne Sullivan folgendes berichten:
„Es hat sich etwas sehr Wichtiges zugetragen. Helen hat gelernt, dass jedes Ding einen Namen hat und dass das Fingeralphabet der Schlüssel zu allem ist, was sie zu wissen verlangt. Als ich sie heute früh wusch, wünschte sie die Bezeichnung für Wasser zu erfahren. Ich buchstabierte ihr w-a-t-e-r in die Hand und dachte bis nach Beendigung des Frühstücks nicht mehr daran. Später gingen wir zu der Pumpe, wo ich Helen ihren Becher unter die Öffnung halten ließ, während ich pumpte. Als das kalte Wasser hervorschoß und den Becher füllte, buchstabierte ich ihr w-a-t-e-r in die freie Hand. Das Wort, das so unmittelbar auf die Empfindung des kalten, über ihre Hand strömenden Wassers folgte, schien sie stutzig zu machen. Sie ließ den Becher fallen und stand wie angewurzelt da. Am nächsten Morgen stand Helen früh auf. Sie flog von einem Gegenstande zum anderen, fragte nach der Bezeichnung jedes Dinges und küsste mich vor lauter Freude. Alles musste jetzt einen Namen haben.“
(vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Helen_Keller)
Helen Keller lernte durch ihre Lehrerin und das Berühren des Wasser, Dinge zu begreifen und zu benennen. Durch das Benennen der Dinge ist es ihr endlich möglich, mit Menschen zu kommunizieren. Sie kann auf einmal der Welt aktiv begegnen, sie kann sie entdecken und in positiver Weise mitgestalten.
Ganz ähnlich ergeht es dem Blinden im heutigen Evangelium mit Gott:
Als erstes hat er Kontakt mit einem Unbekannten, der ihn von seiner Blindheit erlöste. Wie wir bei den Gesprächen mit den Mitmenschen gehört haben, hat er aber weder verstanden, wer ihn da geheilt hat, noch was da mit ihm genau passiert ist. Er weiß nur, dass er jetzt wieder sehen kann. Das ändert sich aber im Laufe der Gespräche, besonders auf der Anklagebank der Pharisäer.
Hier können wir das Bild vom Wasser, das Helen Keller über die Hand floss, gut übertragen. Helen Keller lernt durch das Berühren des Wassers beim Waschen und beim Befüllen des Bechers den Name „Wasser“ mit dem Wesen des Wasser zu verbinden, und damit kann sie auf einmal Wasser benennen, ausdrücken, in ihr Leben einordnen.
Für den geheilten Blinden sind die unzähligen Fragen der Nachbarn und Pharisäer wie Wasser auf seine Hand. Ständig kommt er dabei mit dem Namen Jesus in Kontakt. Und so bekommt der Sehende eine immer klarer werdenden Sichtweise darüber, wer dieser Jesus ist, der ihn geheilt hat. Und als Höhepunkt und Bestätigung endete dann die zweite Begegnung mit Jesus selbst in einem Glaubensbekenntnis und der Erkenntnis, wer Jesus ist. Wie groß muss die Freude gewesen sein?
Das heutige Evangelium ist eine Einladung, immer wieder dieses – ich nennen es einmal – Wasser der Helen Keller über unsere Hand fließen zu lassen. Lassen wir die Welt an uns heran, lassen wir Gott uns berühren, durch unsere Mitmenschen, durch ihre Fragen, ihre Zweifel, aber auch durch ihre Freuden und Hoffnungen. Lassen wir Gott uns berühren durch das, was um uns geschieht, was unser Alltag ist. Es gibt da im Alltäglichen so viel Neues zu entdecken, was uns Gott näher bringt! Das wird bei jeder und jedem anders sein. Gleich sein soll aber: Lassen wir zu, dass Gott uns berührt, um eines Tages voll Freude wie der Sehende sagen zu können: Ja, Herr, ich glaube!