Predigt vom 15. Jänner 2023
„Die Erde ist rund“ - so heißt der Titel einer Kindergeschichte von Peter Bichsel. Sie handelt von einem älteren Mann, der nichts mehr zu tun hat und deshalb seine Zeit damit verbringt, alles, was er weiß, noch einmal zu überlegen und aufzuschreiben.
Er weiß z.B.: Die Erde ist rund, und wenn ich jetzt von meinem Tisch aufstehe und immer geradeaus gehe, komme ich nach Monaten oder Jahren von der anderen Seite wieder an den Tisch zurück. Noch viele andere Erkenntnisse schreibt er auf sein Blatt Papier - und am Ende fasst er alles zusammen in einem Satz: „Das alles weiß ich, aber das glaube ich nicht, und deshalb muss ich es ausprobieren.“
Ich möchte Ihnen nicht die ganze Geschichte, sondern nur noch eines verraten: Der Mann ist aufgestanden und geradeaus gegangen …
Mir geht es jetzt nur um diesen einen Satz: „Das alles weiß ich, aber das glaube ich nicht, und deshalb muss ich es ausprobieren.
Hier wird das, was wir gewöhnlich über Glauben und Wissen sagen, einfach auf den Kopf gestellt. Bei uns heißt es: „Ich weiß es nicht, aber ich glaube es“ - und damit bedeutet glauben für uns, etwas nicht so genau wissen. Für den Mann in unserer Geschichte dagegen ist glauben mehr als wissen. Es ist ein Überzeugtsein.
Es wäre sicher hochinteressant, diesen einen Satz auf alle unsere Glaubenswahrheiten anzuwenden. Für ein Thema möchte ich das mit Ihnen einmal durchspielen.
Im heutigen Evangelium sagt Johannes der Täufer über Jesus: „Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt.“
Man kann dieses Bekenntnis auch so formulieren: „Das ist Jesus Christus. Er befreit uns von Sünde und Schuld. Er erlöst die Welt und jeden von uns. Er nimmt weg, was uns belastet und Angst macht, was uns quält und bedrückt.“
Ich möchte jetzt einfach einmal behaupten: Das alles wissen wir, aber das glauben wir nicht, und deshalb müssen wir es ausprobieren.
Ich weiß,
dass Jesus erlöst und befreit;
dass er heilt und gesund macht;
dass er Schuld vergibt und aus der Not rettet.
Ich kenne die Geschichten, die man von ihm erzählt.
Ich weiß, dass sich durch Jesus das Leben der Menschen verändert und heil wird.
Das alles weiß ich - aber ich glaube es nicht. So geht unser Satz weiter. Das könnte heißen:
Dieses Wissen ist noch nicht zu meiner festen Überzeugung geworden. Das Wissen um Erlösung und Befreiung ist noch nicht vom Kopf in mein Herz gelangt, es ist mir noch nicht in Fleisch und Blut übergegangen.
Ich weiß, dass ich erlöst bin, aber ich glaube es nicht - und deshalb muss ich es ausprobieren. Damit wäre unser Satz vollständig.
Ich muss ausprobieren,
Liebe Gottesdienstgemeinschaft!
Kommen wir noch einmal auf das heutige Evangelium zurück. Johannes sieht einen Mann, der unterwegs ist, der auf ihn zugeht. Einen Mann unter vielen, einen, der nicht groß auffällt. Dann aber deutet Johannes auf diesen Mann: "Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinweg nimmt."
Vor einigen Jahren waren wir auf Pfarrreise in Colmar. Dort haben wir das Museum Unterlinden besucht und den berühmten Isenheimer Altar besichtigt.
Der Maler Matthias Grünewald hat diese Szene aus dem heutigen Evangelium an das Ende des Lebens Jesu verlegt. Da steht unter dem Kreuz nicht der Jünger Johannes, sondern Johannes, der Täufer. Mit langem Finger deutet er auf den, der am Kreuz stirbt. Da sollen die Menschen erkennen, er ist wie ein Lamm, das geschlachtet wird, er ist der, der durch sein Sterben die Sünde der Welt hinweg nimmt. Und um die Symbolik noch zu verstärken, hat der Künstler ein Lamm zu Füßen des Täufers platziert.
Ich weiß, dass Jesus Christus mich befreit und erlöst. Aber ich kann es manchmal nicht glauben. Deshalb muss ich es ausprobieren.
Der Mann in Peter Bichsels Geschichte ist vom Tisch aufgestanden und losgegangen.
Ich wünsche uns, dass wir ausprobieren, ob das Wissen um unsere Erlösung auch wirklich trägt.
Und ich wünsche, dass wir den Satz Johannes des Täufers in jedem Gottesdienst aus voller Glaubensüberzeugung sagen können: „Lamm Gottes, du nimmst hinweg die Sünde der Welt. Erbarme dich unser und gib uns deinen Frieden!“